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"Wutbürger" - Die Kultur des Reflexes

Der Wutbürger ist wütend wenn er nicht wütend sein darf. Der Wutbürger ist wütend, wenn er so genannt wird oder wenn er nicht verstanden wird, oder seine allzu berechtigte Wut Kritik erfährt. Ich bin auch schon wütend. Der Begriff 'Wutbürger' ist nun auch noch Wort des Jahres 2010 geworden ist. Das verleidet mir fast, dieses Wort überhaupt noch zu verwenden, denn es kennzeichnet einen allgemeinen Trend, die Welt besteht nur noch aus Trends, Äußerungen einer aktiven Minderheit aus der Mitte der schweigenden Mehrheit, die sich so direkt einbringen kann. Durch Entsetzen, Betroffenheit, Tränen, Wut. Wut ist zum Ersatz geworden. Zum Ersatz für eine geordnete Spielart der Demokratie. Die repräsentative Demokratie scheint nicht mehr zu funktionieren. Der Wutbürger sieht sie nur noch als korruptes Anhängsel der Finanz- und Großprojekte-Industrie, einer Politik, die Menschlichkeit und 'Nachhaltigkeit' (Wort des Jahres für grüne Wutbürger) mit Füßen treten. Eine neue Erkenntnis?

Bewegung. Die neue Bürgerbewegung ist heilig. Sie bewegt sich. Neue Montagsdemos, Mahnwachen, Blockaden, Straßenproteste. Der Wutbürger bewegt sich. Das allein gibt ihm Recht.

Wer hat denn Recht? In der Tat kann nicht alles in Stein gemeißelt bleiben, was ein Parlament einmal beschlossen hat. Fragen sind berechtigt. Ein Umdenken ist möglich. Der Diskurs muss öffentlich und gründlich geführt werden. Auseinandersetzung braucht Differenzierung und Differenzierung braucht Polemik, Zuspitzung, Satire, um Widerspruch zu wecken, um eine Auseinandersetzung in Gang zu bringen, um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Satire? Witz? Schwierig, wenn es um Moral geht.

Moral, Sparzwang, das Gute an sich - siehe da, wir leben schon wieder in einer Welt, in der das 'Gute' gegen das 'Böse' kämpft, der Ungläubige um sein Leben fürchten muss, eine Karikatur Brände und Mordanschläge auslöst, wenigstens aber, wie hier bei uns, sitzt ganz Deutschland "auf dem Sofa und nimmt übel", wie schon Tucholsky treffend beobachtete. Ausnahme: Der Comedy-Dummbeutel, der über Frauen und Schuhe lallt, erfreut sich allseits Beliebtheit. Ich bin ja blöd.


Wer ist nun aber dieser Wutbürger, oder besser: die kultivierte Dame, die noch nie gegen Krieg protestiert hat, aber jetzt gegen einen Bahnhof auf die Straße geht? Wer ist der Rentner, der den Bauzaun niederreißen will, sich aber sein Leben lang hinter seinem Gartenzaun verschanzt? Der Wutbürger ist der in Wut geratene Leisetreter. Genau derjenige, der sich immer auf den Gang der Dinge verlassen hat und sich jetzt verlassen fühlt. Der sich nie einmischen wollte und jetzt um sich schlägt. Der nur einen neuen Sinn im Leben findet, wenn er Geld spart, Energie spart, sich selbst erneuerbar und nachhaltig fühlt. Es geht um seine Sicherheit, seine Bäume und seine alten Bahnhöfe. Und die Freiheit. Was aber ist Freiheit? Er hält ja schon jeden Info-Müll für Journalismus, Veröffentlichung für Aufklärung und Wut für Rebellion. Wenn die Begriffe verschwimmen, bleibt ein Begriff übrig: Moral. Darüber darf es keine zwei Meinungen geben. Wer also für einen teuren Neubau ist, kann nur unmoralisch sein, denn er will Altbewährtes zerstören und Geld zum Fernster hinaus werfen.

Den Begriff “Wutbürger” hat als erstes Magazin der “Spiegel” öffentlich gemacht zur Beschreibung eben des Bürgers, der sich nur noch ohnmächtig-wütend fühlen kann, weil er nie etwas anderes gelernt hat. In der Mehrheit, aber ohne dass jemand auf ihn hört. Das macht unlustig. Die Politik ist korrupt, die Banken verzocken das Geld und der Bürger zahlt die Zeche. Deshalb, soweit ist die Beobachtung richtig, liegen Wut auf Griechenland, Wut auf Banken, Wut gegen Kopftücher und Wut gegen Großprojekte so nah beieinander. In einem “Zeit”-Kommentar wird dem “Wutbürger” reaktionäre Gesinnung bescheinigt.

In regelmäßigen Abständen lesen wir in großen Buchstaben: Bürger-Wut gegen zu hohe Benzinpreise. Wut ist leicht herzustellen und leicht zu lenken. Für welche Zwecke, gegen was oder wen? Solange Wut ein Reflex bleibt, weil Unzufriedenheit ein Ventil braucht, solange bleiben solche Emotionen eine Gefahrenquelle. Von Simplifizierung zu Dummheit ist es dann oft nur noch ein kleiner Schritt zu Verachtung und Gewalt. Die Einfalt der Wut treibt schon jetzt merkwürdige Blüten: Am Bauzaun in Stuttgart hing tatsächlich ein Transparent mit der Aufschrift: “Platz des himmlischen Friedens”. Wir leben nicht in China, Gott sei Dank. Auch nicht in Russland oder Italien. Eine Debatte ist möglich.

Ein wohltuender Prozess war in diesem Zusammenhang die Schlichtung zu Stuttgart 21, die Heiner Geißler wirklich klug zu einem Forum gemacht hat, in dem tatsächlich Konzepte und Argumente bis ins Kleinste erklärt werden mussten. Schon sank die Wut gegen Null, das Verständnis und das Interesse am Gegenstand nahm zu. Das ist Demokratie. Das heißt nicht, dass Wut nicht legitim sein kann, als Ergebnis einer Empörung etwa gegen Gewalt oder Ungerechtigkeit. ‘Bild macht dumm’ wäre nach wie vor ein richtiger Satz, ein richtiger Anlass für Aufruhr. Aber davon sind wir weit entfernt. Ein Sturm auf das Springer-Hochhaus ist nicht geplant. Schauspieler, Intellektuelle, Feministinnen machen heute Werbung FÜR Bild.

Ich selbst bin auch ein Wutbürger, mich macht Einfalt wütend, die Gleichgültigkeit, der Fernseh-Kitsch, gewaltbereite Angehörige aus so genannten bildungsfernen Haushalten, quiekende Tussis, deutscher Pop, Trantüten-Theater und so weiter und so fort. Die nassforschen Gäste in Talkshows haben es mir besonders angetan. Da gibt es den FDP-Abgeordneten, der bei Maybritt Illner im ZDF süffig anmerkt, wenn der Bürger gegen den Ausbau von Infrastruktur sei, dann müsse er auch konsequent sein und ganz aussteigen, mit ein paar Zotteltieren auf der Alm und mit Holz die Hütte heizen. Da bekomme ich die Wut und denke an die dämlichen Sprüche der Atomindustrie aus den frühen Jahren: “Atomkraftgegner überwintern bei Kerzenlicht und kaltem Hintern” kurz bevor der für absolut unmöglich gehaltene Super-Gau eintrat und eine undenkbare Kernschmelze Radioaktivität über ganz Europa trug. Wenn die von mir durchaus geschätzte Bundeskanzlerin vor diesem Hintergrund die Laufzeitverlängerung zulässt, dann denke ich an den guten Satz: “Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht”. Der Widerstand damals war massenhaft, er war das Ergebnis langer Prozesse, umfassender Analysen. Er hatte Perspektiven und die Idee eines neuen Denkens jenseits von Mauern und Gartenzäunen und dieser Widerstand hat selbst die Politik beeinflusst, weil auch Politiker noch denken konnten. Dass es Politiker trotz Erkenntnis an Vernunft fehlen lassen, macht in der Tat wütend.

Das Problem aber ist vor allem - nicht nur Politiker, alle Mitglieder sozialer Gruppen: Bürgertum und Hartz IV, Bild-Leser und Muslime, Christen und Atheisten, Bauern und Studenten, Mitglieder multipler Parallelwelten, die sich nicht einmal mehr im Unendlichen treffen, reagieren nur noch per Reflex auf jede Meldung, jede Mail, jedes Projekt, jedes Gerücht, jeden Daten-Kick. Diese Reflexe werden dann gemessen und danach richten sich dann Politik, TV, Industrie und Netz.

Deshalb funktioniert unser Wutbürger-Staat ganz im Sinne ihrer Erfinder. Russland oder der Iran sollten sich ein Beispiel nehmen. Dann brauchen sie keine Journalisten mehr tot zu schlagen, keine Oppositionellen einzusperren.

Noch etwas. Freunde haben mich gewarnt: Weiter auf einem Blog zu schreiben, zum Thema Köln, zum Thema Schauspielhaus, sei nicht klug. Ich solle mich nicht wundern, wenn es Schwierigkeiten gäbe, wenn ich Leute wütend machen würde. Ich wundere mich nicht mehr. Ich schreibe einfach was ich denke. Und werde hier noch nicht dafür verhaftet. Wissen Sie übrigens, welche Blogs die meisten Zugriffe haben? Die, in denen Schauspielerinnen schreiben: Hier meine neusten Fotos. Gute Nacht, liebe Leserin, lieber Leser. Und nichts für Ungut.

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