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Zwitschernd ins Mittelalter

Lynchjustiz, Pranger, Inquisition... Das war einmal. Wir sind menschliche Wesen geworden, wir benehmen uns zivilisiert. Mündige Bürgerinnen und Bürger. Keine Schafe. Wir haben gelernt: Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber. Also twittern wir: Die armen Tiere. Und posten: Zu was Menschen alles fähig sind! Bitte teilen! Und dann schauen wir uns um: Wo ist der Metzger? Unter uns? Der Fleisch-Esser, der Merkel-Versteher, der Griechenland-Kritiker?

Wir hängen gerne in der sozialen Hängematte der gesichtslosen Konzerne, die uns beherrschen. Google, Facebook, Starbucks... Da werden wir bedient. Unsere Eier werden eingefroren, falls wir Frauen sind, um später Kinder zu bekommen, mit 60 – wenn die Arbeit getan ist, in multikulturell-musikumspülter Atmosphäre, in Nachhaltigkeit und sanftem Grün. Wir sind wer. Jeder darf sich äußern, im Netz, weltweit, falls er – oder sie nicht in China, Russland, der Türkei oder Korea lebt – falls er noch lebt – oder sie. Also was tun gegen die Langeweile?

Wollen wir den Schafspelz nicht ein bisschen lüften? Wollen wir nicht ein bisschen beißen? Vielleicht auch ein Stückweit totbeißen? Aber ganz langsam. Vorsichtig. Erst einmal ausscheiden. Erst werden wir zu Schafen, die alles Grün abfressen, um es als Hashtag auszuscheiden.
Dann zu Schafen, die sich zusammenrotten, um mit dem Hashtag auf die Fährte zu kommen, die sich in eine blutrünstige Meute verwandeln und losstürmen. Ja, sie wittern das Opfer und wenn es nur einen kleinen Kratzer aufweist. Sie erkennen den Geruch des Blutes, sie wollen jagen und zerfleischen. Alle Schafe haben weiße Wolle. Die schwarzen Schafe werden gejagt.

Alles muss korrekt sein. Keine Zwischentöne, keine Überlegungen, Zweifel, Annäherungen.
#itsacoup – Nein. Kein Staatsstreich in Griechenland... Gemeint ist Schäuble, der deutsche Hitler im Rollstuhl. Nicht etwa eine 'linke' Regierung, die ohne Krawatte auf Motorrädern lässig mit einer Hand in der Tasche in Verhandlungen fährt, die außer diesen Lässigkeiten keinen Plan hat. Eine Männer-Klique, die weder eine schlagkräftige Steuerfahndung einrichtet, noch Steuern eintreibt, die die Milliardäre wie eh und je ungeschoren lässt, die Korruption, die das gesamte System der Vetternwirtschaft, wie ihre Vorgänger, offenbar als kulturelles Erbe betrachtet – diese Regierung also treibt ihr Volk ungesteuert in die Katastrophe und lässt es dazu kommen, dass die 'Geber-Länder' ausschließlich und nur noch von Schulden, Finanzen und Banken reden, weil sie jetzt noch leichter ihren eigenen Profit machen können. Eine komplizierte Gemengelage, deren Unübersichtlichkeit den Schafen zu kompliziert wird. Sie wollen sich nicht über Urheberschaft oder Ursachen Gedanken machen müssen, ihnen genügt ein einfaches „Määhh“: #itsacoup.

Außer dass unter diesem Stichwort für bald erscheinende CDs geworben wird, oder tatsächlich über einen Putsch (in Thailand) gezwitschert wird (niedlich, oder?), finden wir das übliche Übertreiben und Aufpumpen und Schimpfen und Jammern und Anklagen. Griechenland ist toll, die armen Griechen sind toll, die Linken sind toll, Schäuble ein Putschist, Merkel Mutti mit hängenden Mundwinkeln, Deutschland Scheiße, der Kapitalismus sowieso, die Troika sowieso und überhaupt: „Määhh!“

Ein vorläufiger Höhepunkt war der letzte Shitstorm in den unsozialen Netzwerken unter #merkelstreichelt – oh mein Gott! Oder besser OMG! Damit es auch die Schafe verstehen.
Merkel in einer Fernsehdiskussion. Ein kleines palästinensisches Mädchen aus Rostock spricht – in einem Deutsch, das die wenigsten Lallnasen, die sich in ihrem Heimatort vor Flüchtlingsheimen aufbauen, verstehen, geschweige denn sprechen können, sie spricht also über ihre Angst als Flüchtling aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Und die Kanzlerin fragt nach, antwortet ihr vernünftig und klar, aufmerksam und dann - um nichts zu beschönigen - sagt sie: Nicht alle werden bleiben können. Das Mädchen fängt an zu weinen, Merkel sieht das, schaut sie an, geht auf sie zu, tröstet sie und sagt ihr, sie habe das sehr gut gemacht, die Probleme so zu schildern. Der nassforsche Moderator muss natürlich hashtag-mäßig eingreifen und irgendwas labern von wegen so einfach sei das nicht, die Kanzlerin ändert den Ton, das wisse sie auch (ich hätte dem Schnösel eine geknallt) und wendet sich wieder dem Mädchen zu.

Dann wird der Beitrag natürlich zusammen-zerschnitten, das große „Määhh!“ beginnt. ÄÄÄhhh, Merkel hat gestreichelt. Will sie auch die Griechen streicheln? Will sie alles wegstreicheln? Die ersten Fotomontagen entstehen. Die ersten Berichte über die Schafherde, über das große „Määhh!“ in den Medien, die natürlich – bis in die seriösen Nachrichten hinein von der 'Empörung' in den unsozialen Medien berichten müssen. WARUM? Die Masse macht's. Das gesunde Volksempfinden muss Thema werden.
Ist die Herde erst einmal losgelaufen, gibt es kein Halten mehr. Das Blöken, das Getrampel, die Staubwolke – darüber muss berichtet werden.

Warum ist das so, warum diese Umkehrung aller Werte. Eine Kanzlerin, die klare Worte findet, auf das Mädchen eingeht, sie tröstet, wenn das Kind die Fassung verliert. Sollten wir nicht – wenn es überhaupt einer Reaktion bedarf – dankbar sein für einen solchen Politikstil? Für eine menschliche Geste?
Wollen wir alle zu Schafen werden? Wollen wir ein lupenreines Riesen-Schaf mit großem Maul, einen Wolf, der ein Baby-Schäfchen auf den Arm nimmt, selbstverständlich von Schaf-Reportern fotografiert, um dem Schäfchen vor laufender Kamera zu versprechen, dass es nicht gefressen wird?
Warum können wir uns nicht darüber freuen, dass uns die größten und dümmsten Exemplare erspart geblieben sind? Bush hätte vom Krieg gegen Terror geknödelt, Berlusconi hätte das Mädchen auf eine Party mit Gleichgesinnten eingeladen, Putin hätte es gleich erschießen lassen. Aber Putin wäre ja nur vom Westen dazu gebracht worden, weil er in die Enge getrieben wurde, der Arme, nicht wahr?

Aus der Distanz schreibt die Züricher NZZ „Der TV-Beitrag über die Begegnung von Angela Merkel mit einem Flüchtlingsmädchen schlägt hohe Wellen. Dabei zeigte der Film nicht einmal die halbe Wahrheit. Ein Lehrstück über Empörungsjournalimus.“ Und weiter schreibt Claudia Schwartz: Der „über sie niedergegangene Shitstorm (war) von subtiler Bösartigkeit – nicht nur in den emotional aufgeladenen Sphären der sozialen Netzwerke. Die 'Süddeutsche Zeitung' gab die Stimmungslage vor, indem sie rasch ventilierte: 'Wie die Kanzlerin ein Flüchtlingsmädchen zum Weinen bringt'. Andernorts wurden gar 'Politiker mit mehr Gespür' wie Silvio Berlusconi herbeigeredet, der das schluchzende Mädchen notfalls eben mit einem unseriösen Versprechen getröstet hätte (Online-Magazin 'Vice').“

Netzhetze, Empörungswelle, Pranger. Zurecht erkennt Kabarettist Dieter Nuhr ein digitales Mittelalter. Und erntet dafür – na was wohl – einen Shitstorm.

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