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Verlorene Erde

Der Untergang naht. Gewitter ziehen durch. Heftig, mit Hagelschlag und Sturm. Es wird kühler. Jetzt kann ich wieder schreiben.

Es war nicht nur heiß, es war so heiß wie noch nie. Und plötzlich bemerkten die Medien, sie könnten zu dem Thema doch einmal einen Wissenschaftler befragen. Das Wetter hatte es in die Nachrichten geschafft. Fotos aus der ISS zeigten einen braunen, verdorrten Kontinent Europa und in Kalifornien wüteten die größten Waldbrände aller Zeiten - die Rauchsäule war bis in den Weltraum zu sehen.

Der Planet leidet an Überhitzung. In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben Wissenschaftler davor gewarnt, dann hieß es, bis Ende der 80er Jahre könne die Katastrophe noch aufgehalten werden. „Jetzt ist der Klimawandel da“, sagt ein Wissenschaftler, nicht per Twitter, sondern auf einer Pressekonferenz. „Keine Fake News“, sagt er in Richtung Trump.

Im Magazin der ‚New York Times’ erscheint ein Artikel: ‚Losing Earth: The Decade We Almost Stopped Climate Change’ von Nathaniel Rich.
Georg Diez vom ‚Spiegel‘ ist beeindruckt und schreibt:
„Mit einem Knall wird deutlich, in der nicht nachlassenden Hitze dieser Wochen, was es bedeutet, im Zeitalter der Katastrophe zu leben. ... Die Welt nähert sich dem Abgrund, doch statt zu handeln, stecken wir den Kopf in den trockenen Sand. Warum weckt der mögliche Untergang der Menschheit so wenig Interesse?
Die Antwort auf diese Frage ist ... eine Antwort auf verschiedenen Ebenen, und die deprimierendste davon ist die der aktuellen Politik, die eben vor allem Politik- und Lösungs-Theater ist, ein Phantasma der Machbarkeit und Beherrschbarkeit, das sich in Begriffen wie ‚Obergrenze‘ abbildet. ... Die Klima-Krise, so hat es der indische Schriftsteller Amitav Ghosh in seinem Buch ‚Die große Verblendung‘ beschrieben, ist auch eine Krise der Kultur und vor allem eine der Imagination, der Vorstellungskraft, der Bilder, Visionen, der Sprache und der Geschichten. Die Literatur, das ist die These von Ghosh, scheitert daran, vom Untergang des Menschen zu erzählen, weil ihr die Erzählmuster und damit der rationale Rahmen fehlen.“

Eine gute Beschreibung. Seit Jahren können wir besagte Folgen beobachten und niemand kann wirklich überrascht sein, dass die Fähigkeit zur Imagination mehr und mehr abhanden kommt. Wir müssen uns nur umschauen, in der Welt der Medien, der Netzwerke oder des Performance-Theaters. Es fehlt Kunst, es fehlen Stücke, Philosophie, Erzählungen, es fehlt die Phantasie. Stattdessen eine Flut von News, Statistiken und Recherchedaten. Dazu ein andauernden Wettlauf um jede kleine Skandalgeschichte, um Verschwörungen, Hackerangriffe, gefälschte oder schockierende Bilder.
Und die immergleichen Antworten. Wer ist Schuld an Kriegen? Beide Seiten, oder natürlich die Juden, die Flüchtlinge, der Westen. Der böööse Putin heißt es dann ironisch von manch kluuugem Kabarettisten.
Und schon sind auch diese Wahrheiten verzerrt. Ja. Putin führt Krieg und sperrt die Opposition ein. Weshalb ausgerechnet hier der süffisante Unterton? 
Foto: Alexander Gerst aus der ISS - Rheingegend. Verbrannte Erde.

Und die Gluthitze in diesem Sommers? Der böööse Klimawandel... Seit 2014 steigen die Temperaturen kontinuierlich. Der Klimawandel ist da. Wenn wir schwitzen, glauben wir plötzlich zumindest, dass es heißer wird, weil wir es am eigenen Leib spüren. Und wer ist Schuld? Natürlich die Merkel, die mit den heruntergezogenen Mundwinkeln. Witzig.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Kultur und der Blindheit gegenüber den Szenarien des Untergangs? Eindeutig ja.
Wir sind unempfindlich geworden gegenüber der näher rückenden Katastrophe, weil wir überhaupt unempfindlich geworden sind. Die echten Bilder von zerbombten Häusern, weinenden Frauen, schreienden Männern sind austauschbar. Wir wissen nicht mehr welcher Krieg da gerade über den Bildschirm tobt. Auf den Bühnen Betroffenenmonologe, im Kabarett Säulendiagramme. Menschengeschichten, die uns berühren könnten - beiseite geschoben. Aber ohne sie zu sehen, können wir uns kaum mehr ein Schicksal vorstellen. 'Flüchtlingsströme', eine abstrakte Bedrohung, die wir aufhalten können, indem wir die Grenzen schließen. Welche Grenzen? Grenzen in der Wüste, im Dorf, im Lager, in ganz Europa? Um die Flut aufzuhalten? Menschen werden zu Wellen. Die Ströme bestehen nicht mehr aus Menschen.

Und der steigende Meeresspiegel - wie soll der aussehen? Das kann, das will sich schon keiner mehr vorstellen. In der Tat: Dem Menschen kommt die Imagination abhanden.
Warum hat er verlernt Geschichten zu lesen, Bilder zu erfassen oder gar Kunst zu verstehen?
Statt Theater zu besuchen, geht er, das Smartphone im Anschlag, ins Musical, ins Kaufhaus, zur nächsten Schlägerei. Jede Lüge wird geglaubt, jeder Betrüger wird zum Retter. In der Schule müssen tobende Kinder gebändigt werden. Theater, Musik, Bildung spielen auch hier keine Rolle mehr. Und auf der Straße - aufgepumpte Vollidioten, kurz vor dem Platzen, panische Pferdeschwänze mit riesigen Rucksäcken, überbesorgte Mütter, überbegabte Kinder... ja, ich hör ja schon auf.

Eine Reizung erfahren diese Konsumenten nur noch durch Performance und Flashmob im öffentlichen Raum. Überraschung. Das Sinfonieorchester auf der Einkaufsstraße. Wenn der Konsument nicht mehr ins Konzert geht, kommt das Orchester eben in die Einkaufsstraße. Gefühle kommen aus dem Herzkino, das Lachen aus den Comedy-Waschsalons - sauber bedient.
Politiker reden ununterbrochen von Erzählung (die Erzählung Europas), aber nichts wird erzählt.
Wir verdorren in unserer Dumpfheit, schauen wir gebannt in den Himmel, stöhnen unter der Hitze und erwarten den Einschlag des Blockbuster-Meteoriten, der alles Leben vernichten wird.
Aber es bleibt nur eine Wüste stacheliger Twitter Sträucher und ein brennender Facebook Dornbusch, den wir, wie befohlen, anbeten. Die Katastrophe ist da.

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