Im 17. Jahrhundert wurde schon einmal gestreamt und performed - allerdings noch analog. Wanderbühne hieß das damals. Das Spektakel auf den Marktplätzen, die Performance von damals - so Cross-Over und beliebig wie heute.
Ein bisschen Narretei, Tanz, Witz, Lärm und natürlich Gender - Männer als Frauen. Das Event bestand aus Stehgreifstücken, ein Nummern-Zirkus für unterhaltungssüchtiges Publikum.
Die Bühnen wurden beherrscht von diversen Exemplaren einer Figur, die man „Hanswurst“ nannte. Dessen Darbietungen erschöpften sich in entgrenztem Toben auf glitschigen Brettern und derben, experimentellen Provokationen. Hanswurst schrie, prügelte und zog sich aus. Gott sei Dank sind die Zeiten vorbei - oder?
Damals, Ende des 17. Jahrhunderts, erschien mit Friederike Caroline Neuber - Neuberin genannt - eine Theatermacherin, die ein anderes Theater wollte. Sie stellte sich, heute würde man sagen, dem ‚Performativen‘ entgegen. Die Prinzipalin schlug vor, klassische französische Dramen aufzuführen - und wünschte sich, dass diese in festen Theaterhäusern gespielt würden. Was für eine ungeheure Vorstellung, geradezu eine Revolution.
Auch heute wäre ein „Zurück zu Stücken“ revolutionär, ein zurück zur Sprache, zurück zum Schauspiel, zur Kunst in vollen Theatersälen - die Zeit der Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie sehr uns eine Sehnsucht nach lebendigem Spiel ergreifen kann. Stattdessen aber beherrschen wieder und immer noch die Ideologen des Digitalen die Diskussion um das Medium Theater. Mehr denn je geht es um Gender, Krach und Video. Statt weniger, sehen wir immer mehr Hanswurst*innen die Bühnen bevölkern.
Wo bist du heute, Neuberin? Eine der berühmtesten Aufführungen deiner Theatergruppe stellte den Hanswurst endlich vor Gericht und prügelte ihn anschließend von der Bühne. Wir brauchen dich. Du würdest uns möglicherweise wieder von der Bühne aus zurufen: „Denn von der Schauspielkunst habt ihr sehr wenig Licht, weil’s Euch an Zärtlichkeit, Natur und Kunst gebricht.“ Damals, in Hamburg, ein Affront, ein Skandal. Sie wurde nie wieder eingeladen. Heute bekommen solche Leute einfach keine Zuschüsse mehr.
Vom Hanswurst blieb später eine Art Kasper, der auch in Köln eine sehr entwickelte Tradition vorweisen kann. Das „Hänneschen“ durfte im zweiten Pandemie-Jahr sogar den Rosenmontagszug bestreiten. Gut so. Da gehört es hin. Aber der Hanswurst aus Fleisch und Blut hat sich fast in jedem Stadt-Theater festgesetzt. Da spielt er Filme ab und steckt den Kopf in den Schlamm.
In der so genannten freien Szene verspritzt er Flüssigkeiten oder zersägt Holz - alles schon gesehen.
Personen, denen schon vor Jahren eher eine Therapie geholfen hätte, leben sich so schon lange auf diversen Werkstattbühnen aus. Ihre Hanswurstiaden finden große Anerkennung. Diverse, soziolo-kulturelle Besprechungen im Feuilleton loben ihren Zirkus als ‚verstörend‘, auf den Brettern finden sich Nackte, Schmutzige, Kunstblut-Überströmte - gespielt wird mit viel Lärm um nichts. Hanswurst, nein, Hanswurst Pause In - wird gefördert und für den Theaterpreis nominiert. Eine gerade angekündigte Vorstellung (Köln, Februar 2021) heißt schlicht: „Performative Nachhaltigkeitsforschung“. Ja. Schon klar. Kein Kommentar. Prügelt ihn von der Bühne.