Ich lese von einem Fall in Frankreich. Es geht um eine Karikatur. Mittlerweile gibt es kaum noch ein Thema, das überhaupt noch satirisch behandelt werden kann, ohne dass sich jemand beleidigt oder verletzt fühlt, respektlos behandelt, herabgewürdigt oder nicht auf Augenhöhe gesehen. Durch die permanente Angst von Sendern und Zeitungen, einen falschen Schritt zu machen, die geradezu panische Furcht, das Netz könnte wieder einmal explodieren, werden satirische Beiträge schnell entfernt oder gar nicht erst veröffentlicht.
Das Problem: jeder karikierende Strich, jede Typisierung auf der Bühne, löst einen Shitstorm aus, in der Folge wird sofort und reflexhaft eine Entschuldigung eingefordert, von Satirikern, von Kollegen, von Redaktionen, Intendanten, Verlagen, Anstalten. Am besten, denken diese, wir bieten erst gar keinen Anlass. Doch da gibt es noch ein Problem: Noch schreibt und zeichnet manch überlebender Satiriker und Karikaturist weiter auch und gerade in Frankreich, auch und gerade nach dem Terror und den Morden muslimischer Fundamentalisten. Weltweit verzichten schon jetzt die meisten Zeitungen auf die Kunst der Karikatur. Eine der letzten Zeichnungen in der „New York Times“ zeigte Premier Netanjahu als Hund an der Leine von Präsident Trump. Es folgte erst ein Shitstorm, dann der Vorwurf des Antisemitismus. In der „New York Times“ wurde seitdem keine Karikatur mehr gedruckt.
Und in Frankreich? Dort hat ja gerade die Karikatur eine große Tradition, von Grandville über Daumier bis zu „Charlie“. Direkt nach der Ermordung einer ganzen Redaktion durch religiöse Fundamentalisten, erlebten wir 2015 noch eine große Welle der Solidarität, weltweit. Nun sehen wir, von dem großen Aufschrei „Ich bin Charlie“ ist nur noch ein verschämtes Flüstern übrig geblieben. Das Wüten und Toben der Puritaner und religiösen Eiferer, wird dagegen immer lauter und wird mit Zusammenzucken und ängstlichen Rückzügen quittiert.
In der großen, liberalen Zeitung „Le Monde“ wird um eine Karikatur gestritten. Hier zeichnete Xavier Gorce seit zwei Jahrzehnten seine Pinguine „Les Indégivrables“ (Die Unaufgetauten). Figuren, die sich mit wenigen kühlen Strichen über die Absurditäten des Lebens hermachen, natürlich lustig und natürlich respektlos. Die letzte Karikatur war in einem Newsletter der „Monde“ zu sehen, am 19. Januar 2021. In dem „Brief“ geht es um Karachi, die Uiguren, Deutschland, Italien, Handball und Boris Johnson. Darunter fand sich die obligatorische Rubrik. Sie zeigt einen kleinen Pinguin, der den größeren fragt:
„Wenn ich vom adoptierten Halbbruder der Lebenspartnerin meines Transgender-Vaters, der jetzt meine Mutter ist, sexuell missbraucht werde, handelt es sich dann um Inzest?“
Erster Schritt: Shitstorm. Zweiter Schritt: Ohne überhaupt mit dem Zeichner gesprochen zu haben, folgte die umgehende Entschuldigung der Chefredakteurin Caroline Monnot: „Diese Zeichnung hätte nicht veröffentlicht werden dürfen“. Sie könne als „Relativierung“ des Inzests verstanden werden.
Dritter Schritt: Der Karikaturist kündigt - nach 19 Jahren - die Zusammenarbeit und schreibt: „Die Zeichnung wurde veröffentlicht, vom Aufmacher akzeptiert und anerkannt. Diese Entschuldigung verstehe ich nicht. Ich finde, die Zeitung macht da einen schweren Fehler: sich zu entschuldigen nach einer Bashing-Kampagne in den sozialen Netzwerken.“
Nächster Schritt: Leserbriefe aus der Community. Ein Beispiel: „Dies ist nicht das erste Mal, dass diese Person eine Zeichnung produziert, die zutiefst schockierend und gewalttätig ist gegenüber Opfern sexueller Gewalt, und diesmal gönnt er sich zusätzlich noch den Luxus, sich über LGBTQI + - Personen lustig zu machen, eine weitere seiner Obsessionen, um noch ein wenig mehr in das Gesicht von Minderheiten zu spucken.“ (‚Quentin Hell‘)
Gewalttätig? Eine Nummer kleiner geht bei diesen Extremisten nicht mehr. Sich ja nicht über "LGBTQI + - Personen" lustig machen. Die Puritaner haben zwar noch keinen Säbel in der Hand, wie die muslimischen Kollegen, schicken aber schon - zumindest im Geiste - Satiriker und Karikaturisten auf die Guillotine.
Xavier Gorce reagiert auf Twitter mit einem kleinen Pinguin, der den größeren fragt: „Haben Sie Ihren Gesundheitsausweis für Humor dabei?“
Und weiter schreibt er: „Ab wann will man einschätzen, ob sich jemand zu Recht oder zu Unrecht verletzt fühlt? Will man sich da jedes Mal entschuldigen? Worüber sollen wir denn dann noch reden und zeichnen? Eine Zeichnung ist in erster Linie Humor. Nicht, um jemanden auszulachen. Es kann in manchen Fällen Spott sein, aber vor allem, um die Fehler in der Gesellschaft anzuprangern.“
So ist es. Gut, dass ich mich letzen Endes entschlossen hatte, kein Karikaturist zu werden, sondern Theatermacher. Obwohl...