Direkt zum Hauptbereich

Etwas Positives

soll ich schreiben, riet mir jüngst eine Freundin. Ich willigte ein und legte mich ein bisschen auf mein Ohr, um Ruhe zu finden.

Ich wache auf, weil Geschirr und Bücher aus den Regalen stürzen. Die Tapete reißt auf: Dahinter gähnt eine Leere, die mit einem Mal von gleißendem Licht durchschnitten wird. Ein komischer Mann mit vorgeschobenem Unterkiefer singt: "Wir sind alle deine Kinder". Der Herr Westernhagen, so heißt der Nachbar, quetscht ein paar Töne aus seiner Lederjacke, während der Schutt dampft und Steine stürzen. "Ein kleines bisschen Sicherheit", schreit ein verletzter Junge zwischen den Trümmern meines Hauses, während eine Frau mit dickem Bauch, die draußen auf der Straße sitzt, leise nach dem letzten Einhorn Ausschau hält. "Ein Herz für Kinder" flüstert sie und senkt den Blick. Am Ende der langen, gewundenen Straße kommen die Helfer und bauen Kräne, Schienen, Transformatoren, Scheinwerfer und Kameras auf. Es wird eine große Show. Da erwache ich aus meinem Traum.

Ich hörte aus der Ferne einen Programmhinweis des ZDF.
Eine raue Stimme wie aus einem Abenteuerfilm ist zu hören. Die Stimme rollt unaufhaltsam, wie ein Tsunami, in mein Wohnzimmer: Zu einer lustigen Musikuntermalung sieht man weinende Kinder, überblendet mit Verletzten und Häuserruinen. Logo: "Ein Herz für Kinder". Klebt auch auf den Autos, die uns die Vorfahrt nehmen, neben "Baby an Bord" und Schäferhundkopf. Ein Wackeldackel nickt durch das Rückfenster. Auf der Ablage die BILD: "Supermodel Claudia Schiffer: Hier zeigt sie ihr süßes Baby-Bäuchlein!"

Die Stimme, heiser raunend, fährt fort: "Eine Woche nach der verheerenden Katastrophe in Haiti kämpfen die Menschen um's Überleben" - Pause - die Stimme hebt sich: "Die Spendengala im ZDF! Mit Thomas Gottschalk und Steffen Seibert! An den Spendentelefonen sitzen Wolfgang Joop und Felix Magath" -

"Hallo Deutschland", grüßt eine Blondine in die Kamera und flüstert bedeutungsschwanger: "Die große Spendengala, die das ZDF gemeinsam mit der BILD-Zeitung veranstaltet..." (das größte deutsche Lügen- und Busenblatt wird später in der Sendung mehrmals erwähnt, wie auch die Bayer AG, Siemens, Lidl usw). "Die Proben mit Thomas Gottschalk laufen bereits auf Hochtouren" - Liveschaltung. "Ein paar prominente Namen sind schon gefallen" - "die Telefone laufen, hoffentlich, heiß", wenn Prominente den Hörer abnehmen.

"Welche Highlights erwarten uns denn noch?
- Ja hier auf der großen Showbühne, da werden erscheinen Silbermond ('Gib mir ein kleines bisschen Sicherheit'), Peter Maffay ('Ewig'), wir haben Chris de Burgh hier ('The long and winding road' im Playback-Verfahren vor Video-Clip mit blutendem Kind), wir haben Sarah Connor hier, das heißt wirklich große Acts sind dabei - aber - es wird auch ernsthafte Gespräche geben... "

Ich erwache nicht. Es ist kein Traum.
Die Deutschen spenden, aber nicht ohne dass man ihnen vorher den Kopf zumüllt und das Gemüt verklebt. Hat es im ZDF jemals ernsthafte Gespräche gegeben, ohne dass es um den Verkauf der nächsten Platte oder die Vermarktung des nächsten Kitschfilms ging? Wenn in einer solchen Sendung schon keine Dichter und Denker auftauchen dürfen (wegen der Quote), warum dann auf halber Strecke stehen bleiben? Ein bisschen mehr Titten, König von Mallorca, Silbereisen, Naabtalduo, Carpendale, Tony Marshall und - ein bisschen Spass muss sein - der original Roberto (Tahiti) Blanco. Die gut platzierte Werbung für die Milchwirtschaft, deutsche Wertarbeit und Haribo versteht sich von selbst, denn sie hat Moral-Gütesiegel. Dann fragt auch niemand mehr: Wo bleibt das Positive?

Jenseits der Show helfen Freiwillige, Retter, Ärzte und operieren, graben, verteilen, wühlen sich bis zur Erschöpfung durch die real existierende Hölle.

Diese Menschen sind das Positive.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Im Gedenken an meinen Freund Thomas Reis

Rede zur Trauerfeier in der "Comedia" am 30. August 2024 Thomas Reis. Es sind so viele Freunde da, es ist so viel vorbereitet. Mir fällt es schwer heute über ihn zu sprechen. Am liebsten würde ich weinen und anschließen ein paar Kölsch trinken. Aber: Thomas sagte: Du hältst die Rede. Toll. Diese Rede zu schreiben hat von mir das verlangt, was ich in über dreißig Jahren immer von Thomas verlangt habe. Von 1000 Seiten Text 995 zu streichen. Es sind so viele Erinnerungen, so viele Fußballspiele, so viel Kölsch, so viele Reisen, so viele wundervolle Auftritte, auf Gold-, Holz-, Kartoffel- und Reis-Bühnen, in Freiburg, Berlin, im Theater am Sachsenring und auch in der Comedia. Hier wollte er eigentlich nicht mehr auftreten. Kein Platz mehr für alte weiße Männer, erzählte er mir. Jetzt ist er doch wieder da. Geht doch. Thomas? Ich höre dich. „Liebe Freunde der belesenen Betroffenheit, Feministen und Feministinnen, trans-, bi-, homo- hetero- und metrosexuelle Menschenfreund*innen al...

Die Gartenschau...

ist auch nicht mehr unschuldig. Das Thema Kostüm ist ein schwieriges geworden, sagt eine Moderatorin im WDR. Der Inhaber eines Kostümverleihs in Köln erzählt von der besonderen Vorsicht vor allem der jungen Leute. Kein Scheich, kein Indianer… Vor zwei Jahren hat man sich zu Karneval noch ein Betttuch übergeworfen, heute haben die jungen Leute Angst damit einen Scheich zu beleidigen. Um die Ecke meines Theaters gab es „Altentheater“. Viele ältere Menschen hatten dort Spaß am Spiel. Auch eine Tanzgruppe von Seniorinnen der AWO hatte sich anlässlich der Bundesgartenschau 23 ein besonderes Programm einfallen lassen: „Weltreise“. Mit phantastischen, zum großen Teil selbstgenähten Kostümen sollte diese Reise um die Welt auf die Bühne kommen. Doch dann knallte es: „Wir sollen die spanischen Flamenco-Kostüme, den orientalischen Tanz, den mexikanischen Tanz mit Sombreros und Ponchos, den japanischen Tanz mit Kimonos, den indischen mit Saris und den ägyptischen Tanz, in dem wir als Pharaoninnen ...

Unterwerfung

Entschuldigung. Ich weiß. Sie denken jetzt: Bitte nicht schon wieder. Aber, Ehrenwort, ich kann nichts dafür. Fast täglich werden wir konfrontiert mit neuen Vorfällen im Kampf der Identitären gegen Kunst, Satire, Bühne, mit einem Kampf gegen jede Kultur, die nicht „sauber“ ist. Und ich - ich muss darüber schreiben, denn das ist mein Metier. Sauber? Ich arbeite seit vierzig Jahren für die Bühne. Ich erinnere mich gerne an die gute alte Zeit, als sich alle noch bemühten auf Teufel komm heraus nicht sauber zu sein. Da spielten in der Arbeit an meinem Theater die Kunst, die Widerhaken in der Kunst und Schauspiel die wichtigste Rolle. Und selbstverständlich spielte Diskriminierung, etwa aus Gründen des Alters, der Hautfarbe, der Herkunft oder des Geschlechtes keine Rolle. Es war selbstverständlich, dass das keine Rolle spielte. Neuerdings werden wir ständig darauf hingewiesen, dass das eine Rolle spielen muss. Wir waren doch auf einem guten Weg, wir mussten nicht darüber reden, denn selbstv...